Historisches aus der Alten Bürger

Flucht im letzten Augenblick

Moses Kirchheimer wollte Deutschland nie verlassen, er hing an seiner Wahlheimat Bremerhaven. Er lebte in der heutigen Alten Bürger 202.
Als die Nazis die Macht übernahmen, flohen seine Söhne in die USA und drängten ihren Vater mitzukommen. Doch Moses zögerte. Und zögerte. Und dann war es zu spät - fast.

Am 15. August 1858 wird Sandel Moses Kirchheimer als Sohn jüdischer Eltern in Nieheim geboren. Später nennt er sich Moritz. Er folgt dem Beruf seines Vaters Aron und wird Kaufmann. Seinen Militärdienst leistet er im Hessischen Jägerbataillon No. 11, bis ihm 1882 wegen eines organischen Herzfehlers "Dienstunfähigkeit" attestiert wird. 1888 heiratet er Caroline, geborene Müller, die beiden bekommen acht Kinder. Doch ein Mädchen wird tot geboren, und auch die drei Söhne Karl, Ludwig und Felix sterben früh. Das Paar zieht 1895 zieht er mit seiner Familie nach Bremerhaven. und Moritz wird stimmberechtigtes Mitglied der Synagogengemeinde Lehe-Geestemünde.

Bereits um 1900 eröffnet er eine Buch- und Briefmarkenhandlung, die er über 30 Jahre führt, bis ihn die antijüdische Gesetzgebung der Nationalsozialisten zur Aufgabe zwingt. Zu diesem Zeitpunkt sind bereits zwei seiner Söhne in die USA ausgewandert. Herbert emigrierte 1926, sein Bruder Arnold folgte ihm zwei Jahre später. Die beiden drängen den Vater und ihre verbliebenen Geschwister, Nazi-Deutschland zu verlassen. Moses' Frau Caroline stirbt 1931. Erst als die Situation unerträglich wird, wandert 1936 auch der dritte Sohn aus. Der letzte der vier Söhne ist Siegfried Kirchheimer, ein angesehener Arzt aus Wolfenbüttel entkommt den Nazis mit seiner Tochter im November 1938.

Trotz des Drängens seiner Kinder will Moses seine Heimat nicht verlassen.

Später erinnert sich sein Sohn Siegfried: "Mein Vater, der seinen vier Söhnen, der Not und nicht dem eigenen Triebe gehorchend, im August 1939 folgte, war echter Bremerhavener geworden, obwohl Westfale von Geburt wie alle unsere Vorfahren bis ins 17. Jahrhundert. Er war bis zuletzt für die Synagogengemeinde tätig, schrieb ein paar Bücher und war Mitglied des 'Plattdütschen Vereens Waterkant'. Er musste noch erleben, wie in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 die Synagoge in Flammen aufging, jene alte aus dem Jahre 1879 stammende Synagoge."

Moses zögert seine Flucht hinaus, bis ihm fast die Zeit fast davonläuft. Erst am 5 Juli 1939 erhält er vom Generalkonsulat der USA in Hamburg sein Einwanderungsvisum für die Vereinigten Staaten. Die Kosten für die Reise und die nötigen Formalitäten übernehmen seine Söhne. In seinem Reisepass findet sich der Stempel: "Hamburg, Hafen. Ausgereist am 8. August 1939". Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges am 1. September 1939 hätte seine Auswanderung unmöglich gemacht. So verbringt er seine letzten Jahre in Freiheit und im Kreis seiner Familie. Moses Kirchheimer stirbt am 1. März 1942. Obwohl er nicht in Bremerhaven beerdigt ist, haben seine Söhne die Verbindung in die Heimat gehalten.

Briefe in die Heimat

Vor allem sein ältester Sohn Siegfried erbt die Verbundenheit zu Bremerhaven. Trotz der Verfolgung und des schweren Unrechts, das die Familie ertragen musste, beginnt er eine Brieffreundschaft mit einem Lokalhistoriker. Auch die anderen Brüder schalten sich nach und nach ein. Neben persönlichen Besuchen entwickelt sich zwischen 1974 und 2000 ein reger Briefkontakt. Das dabei entstandene Konvolut, bestehend aus Briefen und historischen Photografien, ist dem Deutschen Auswandererhaus übergeben worden. Die Tochter Siegfried Kirchheimers lässt es sich auch heute nicht nehmen, bei ihren Deutschlandaufenthalten auch Bremerhaven und dem Deutschen Auswandererhaus einen Besuch abzustatten. Ihr letzter Besuch erfolgte erst im August 2007.

Warum steht hier eigentlich kein Haus?

Der 32jährige Bautechniker Walter Peuß plante 1904 auf dem Bauplatz Kaiserstraße 34, der heutigen Alten Bürger 204, nach eigenen Plänen und Entwürfen den Bau eines vierstöckigen Laden-und Mietshauses.

Die Maurer-, Erd- und Rammarbeiten vergab er an den 41jährigen Bauunternehmer Karl Platow. Nachdem am 31.August 1904 die Bauerlaubnis erteilt worden war, begannen acht Tage später die Bauarbeiten. Bereits am 9.November war Richtfest.

Am Sonnabend, dem 17.Dezember 1904, um 15.50 Uhr, als es bereits dämmerte und in allen Teilen des Hauses gearbeitet wurde, geschah die Katastrophe.
Das gesamte Vorderhaus des Neubaus stürzte ein. Augenzeugen sahen, wie die Frontmauer in der 1.Etage so zusammenbrach, dass die Decken nach der Straße schräg hinunterschossen. Die übrigen Stockwerke folgten, der Dachstuhl hing einige Augenblicke vorn freischwebend in der Luft und stürzte dann gleichfalls nach. Eine große Anzahl von Bauarbeitern wurde mit in die Tiefe gerissen.

Fünf wurden schwer verletzt, 14 von ihnen fanden in den Trümmern den Tod: Stukkateur Drake, der Klempner Bornsdorff, die Arbeiter Richard Mönch und Friedrich Dierks, der Lehrling Hörmann und die Maurer Heins, Gallo, Peterson, Strafe, Rabe, Johann Meyer, Fabio, Giacomo Moratti und Antonio Ballin. Die letzten drei waren Italiener.

Der Maurer Hermann Horstmann berichtete, dass er auf dem Korridor der 2. Etage an der Decke beschäftigt war. Er sah Frontmauern und Decke schräg nach vorn wegschießen und kam mit den Trümmern in die Tiefe. Zu seinem Glück fiel eine Zimmerwand schräg über ihn, die ihn von den nachfolgenden Trümmern schützte. Er konnte sich nach einigen Minuten selbst befreien.

Der Maurer Nicolaus Kirchhoff arbeitete auf dem nördlichen Korridor der 2.Etage des Vorderhauses. Er bemerkte, wie Decke und Wände plötzlich niederbrachen. Im nächsten Augenblick fand er sich unter einer festen Masse begraben im Dunkeln wieder. Er lag auf der Brust, vermochte aber zu atmen. Kopf, Beine und beide Arme waren vollständig eingeklemmt, er konnte nur das linke Handgelenk bewegen. Seine Hilferufe waren anfangs vergeblich. Nach einer Stunde bemerkte er, wie man sich ihm näherte, Balken absägte und so an seiner Freilegung arbeitete.

Die Bremerhavener Feuerwehr,  Arbeiter der umliegenden Neubauten, die Hafen-Inspektion und ein Kommando der Leher Matrosen-Artillerie leisteten sofort und nachhaltige Rettungs-und Bergungsarbeiten.

Natürlich zog die Katastrophe ein Gerichtsverfahren nach sich. Nach langen Voruntersuchungen und umfangreicher Gutachtertätigkeit verkündete die Strafkammer II des Landgerichts Bremen am 27.Januar 1907 das Urteil gegen mehrere Angeklagte. Wegen fahrlässiger Tötung wurden der Hauseigentümer Walter Peuß und der Unternehmer Karl Platow zu je zwei Monaten Gefängnis verurteilt. Das Gericht stellte fest, dass die Angeklagten unvorsichtig gehandelt und die nötige Sorgfalt und Umsicht vernachlässigt  hätten. Der Einsturz des Hauses ist nach dem Gutachten von fünf Sachverständigen durch ungleichmäßige und weitgehende Sackung und Verdrückung von Mauerpfeilern entstanden. Der Beton war mangelhaft behandelt und unrein, er wies an keiner Stelle die vorgeschriebene Haltbarkeit auf. Dieser Beton war weder für die Aufnahme von Druck noch für Zugspannung geeignet.

Über den in Bremerhaven besonders schlechten Baugrund geht die umfangreiche Urteilsbegründung ausführlich ein. So ergaben Bohrproben auf dem Peußschen Grundstück, dass der tragfähige Sand erst in 20 Metern beginnt. Darüber befinden sich mit Ton vermischter Mutterboden, Schlick, Moor und Tonschichten. Ein solcher Boden, sagt das Gutachten, gehört „zu den allerbedenklichsten Baugrundarten und verlangt große Vorsicht bei der Gründung von Bauwerken5)”.

Bei dem Peußschen Bau wurde eine in Bremerhaven übliche Methode angewendet. Die Last des Baukörpers wurde so verteilt, dass es zu einer gleichmäßigen Versackung des Gebäudes kam. Deshalb wurden die Bauten von vornherein um 20 bis 30cm höher gestellt. Eine Unterstützung des Bodens erfolgte anfangs durch Schwellroste, später durch Pfähle, Holzholme und Betonfüllungen.

Immer wieder fällt beim Studium von Akten die Eile, ja die Hast auf, mit der gebaut wurde. Am 1.Marz 1905 sollte der Peußsche Bau „in allen Teilen fix und fertig zur Gebrauchsabnahme hergestellt sein”. Die Kosten sollten 48 000 Reichsmark betragen.

Die Gutachter urteilen über den Einsturz des Hauses: „Unangebracht und gefährlich ist die Sackungsweise, wenn sie auf Wohngebäude übertragen wird, die bis zu 6 Geschossen enthalten. Bei dem hohen Sackungsmaß bis zu 30 cm kann das leicht gefährliche Schiefstellungen zur Folge haben.“ – Das hat in diesem traurigen Fall 14 Menschen das Leben gekostet.

Alle anderen Gebäude, die an derselben Stra0e auf demselben schlechten Grund und Boden in derselben Sackungsweise errichtet wurden, haben gehalten und stehen nun schon über 70 Jahre (2010 -105 Jahre). Die Umstände und Verfehlungen beim Bau des Peußschen Hauses müssen also sehr gravierend gewesen sein. Der Einsturz hat wie ein Schock gewirkt, denn auf dem Grundstück Kaiserstraße 34 wurde nie mehr ein hohes Haus errichtet. Die auffällige Baulücke gegenüber der Sommerstraße erinnert noch heute an das schreckliche Geschehen vom 17.Dezember 1904.

Liebe Studenten in der Alten Bürger 133!

Wisst ihr eigentlich, daß ihr in einem Hotel wohnt?

Das repräsentative Wohn-und Geschäftshaus, das 1903 als Haus Nr. 1 am Anfang der Kaiserstraße gebaut wurde (heute die Alte Bürger 133), war ursprünglich als Bahnhofshotel geplant. Auf dem Cecilienplatz, dem heutigen Donandt-Platz, sollte ein Personenbahnhof der Eisenbahn gebaut werden. Die Eisenbahnlinie verlief am südlichen Rand des Platzes an der Bogenstraße. Zum Bau eines solchen Bahnhofes ist es nie gekommen. Das geplante Hotel mit seiner eindrucksvollen aus Jugendstil und Neubarock gemischten Fassade wurde als eines der ersten Häuser an der Kaiserstraße/Alten Bürger fertiggestellt.


Wenn Ihr noch mehr über die spannende Geschichte der „Alten Bürger“ bzw. Kaiserstraße wissen möchtet, geht auf die Seite www.kaiserstrasse.jimdo.com.

Evely Sjövall, die Autorin des Buches „Die Kaiserstraße- Eine Straße erzählt“ hat aus einer Ausstellung im Jahr 1981 ein spannendes Buch über die Geschichte der früheren „Kaiserstraße“ geschrieben. Mit viel historischen Hintergrundmaterial, aber auch kleine Geschichten über das Leben und die Menschen von 1902 bis 1950 in der „Alten Bürger“ bzw. zu damaliger Zeit die „Kaiserstraße“
Das Buch ist im Ditzen Verlag erschienen.